Denkwelt oder Weltanschauung?
Diese Seite beantwortet eine Fragestellung, die im Buch „Weltanschauung mit Zukunft“ gestellt wird:
Welche der vorgestellten zwölf „Denkwelten“ können tatsächlich als umfassende Weltanschauungen gelten?
Das analytische Rahmenwerk, das ich als das
„Betriebssystem“ jeder Weltanschauung beschreibe, stützt sich auf vier zentrale Funktionsachsen. Diese definieren, welche grundlegenden Bedürfnisse ein
Denksystem erfüllen muss, um Menschen eine ganzheitliche Orientierung im Leben
zu bieten und zu einem wirkmächtigen Identitätsangebot zu werden.
So lauten die Funktionsachsen:
- Bindung:
Diese Achse fungiert als sozialer und emotionaler Anker. Sie stiftet Zugehörigkeit, Vertrauen und Identität durch Rituale, Praktiken und ein gemeinsames Selbstbild. Ob durch das Gefühl von Gemeinschaft oder durch die Betonung radikaler Unabhängigkeit – das Bindungsangebot ist entscheidend, da Menschen sich einer Weltanschauung nie allein aus rationalen Gründen anschließen. - Moral:
Sie bildet das normative Rückgrat und formuliert, was als richtig oder falsch gilt. Die Moral verleiht Handlungen Sinn, macht Verhalten in Gruppen vorhersagbar und schafft Legitimationskraft für Entscheidungen. Weltanschauungen unterscheiden sich fundamental darin, woraus sie ihre Autorität beziehen, sei es aus göttlichen Geboten (Religionismus), der menschlichen Würde (Humanismus) oder dem Prinzip der Leidvermeidung (Veganismus). - Werte:
Dieses Orientierungssystem definiert die Prioritäten und bündelt kollektive Erwartungen wie Freiheit oder Mitgefühl. Werte helfen dem Einzelnen, bei alltäglichen Entscheidungen komplexe Situationen schnell zu deuten und abzuwägen, was wichtig und erstrebenswert ist, und fungieren so als innere Himmelsrichtungen. - Lösung:
Hierbei handelt es sich um den praktischen Nutzen einer Weltanschauung. Sie muss Perspektiven für den Umgang mit persönlichen Krisen und globalen Problemen wie der Klimakrise bieten. Ob diese Lösungen auf technischer Innovation oder einer veränderten inneren Haltung basieren, ist ein zentrales Unterscheidungsmerkmal.
In den für die Leser:innen per Links im Buch erreichbaren Seiten dieser Website werden zur genaueren Analyse die zwölf Denkwelten tabellarisch vergleichbar gemacht.
Auf Basis der dortigen Analyse lässt sich eine klare Unterscheidung treffen: Nicht alle zwölf von mir vorgestellten „Denkwelten“ erfüllen die Kriterien einer umfassenden Weltanschauung. Viele entpuppen sich bei genauerer Betrachtung als partielle Orientierungshilfen oder gar als rein reduktionistische Ideologien.
Daher ordne ich sie in drei Kategorien ein, die ihre jeweilige Reichweite und strukturelle Vollständigkeit widerspiegeln:
Kategorie I: Umfassende Weltanschauungen
Diese Kategorie umfasst Denkwelten, die laut Bewertungsmodell ein relativ ausgewogenes und hoch bewertetes Profil über alle vier Funktionsachsen aufweisen. Sie bieten eine ganzheitliche Orientierung für das menschliche Leben.
- Humanismus:
Er qualifiziert sich durch sein kohärentes, säkulares System zur Sinnstiftung mit hohen Bewertungen bei Unabhängigkeit, menschenzentrierter Moral, immateriellen Werten und Haltungsfokus.
Seine stark anthropozentrische Moral stellt jedoch eine signifikante Einschränkung dar, die ihn letztlich von einer zukunftsfähigen Weltanschauung unterscheidet. Der Humanismus ist zudem bekanntlich als Weltanschauung grundgesetzlich geschützt. - Religionismus:
Jede anerkannte Religion stellt durch ein starkes Gemeinschaftsangebot, ihre transzendente moralische Fundierung und ihren klaren Fokus auf immaterielle Werte sowie Haltung des Einzelnen eine klassische, umfassende Weltanschauung dar. Die Religionen sind bekanntlich zudem als Weltanschauung grundgesetzlich geschützt. - Veganismus:
Er wird inzwischen nicht mehr nur als Ernährungsform verstanden. Die Kriterien erfüllt er durch seine hohen Bewertungen in den Bereichen Unabhängigkeit, universelle Moral, immaterielle Werte und Haltungsfokus.
Er bietet ein konsistentes ethisches Gebäude, das über den Anthropozentrismus hinausgeht, und ist inzwischen nach mehreren Gerichtsurteilen grundgesetzlich geschützt.
Kategorie II: Partielle Weltanschauungen
Hierzu zählen Denkwelten, die zwar mehrere Funktionsachsen abdecken, aber signifikante Defizite oder „blinde Flecken“ aufweisen. Diese schränken ihre Vollständigkeit ein und machen sie eher zu spezialisierten Lebensphilosophien als zu allumfassenden Systemen.
- Stoizismus:
Obwohl er bei Unabhängigkeit und Haltungsfokus Höchstwerte erzielt, stufe ich ihn aufgrund seiner extrem niedrigen Werte bei Gemeinschaft und universeller Moral als partielle Weltanschauung ein. Er ist primär eine Ethik der individuellen Resilienz. - Nationalismus:
Zwar bietet er ein extrem starkes Bindungs- und Werteangebot, scheitert aber an einer mangelnden universell ausgerichteten Moral.
Er bildet ein partikulares Identitätsmodell, das auf Abgrenzung statt auf universelle Orientierung zielt. - Postmaterialismus:
Er zeigt ein sehr ausgewogenes Profil, insbesondere bei den vertretenen Werten und und seiner Orientierung auf persönliche Haltung. Seine Moral ist jedoch weniger umfassend ausformuliert als beim Veganismus, was ihn zu einer wichtigen, aber noch nicht vollständig ausgereiften Weltanschauung macht. - Transhumanismus:
Er deckt zwar die Lösungs- und Bindungsachse qua Ausrichtung auf Unabhängigkeit stark ab, weist jedoch erhebliche Defizite im Bereich der universellen Moral und der immateriellen Werte auf, da sein Blick primär technisch-materiell ausgerichtet ist.
Kategorie III: Reduktionistische Denksysteme und Ideologien
Diese Kategorie umfasst Denksysteme, die sich fast ausschließlich auf eine einzige Funktionsachse reduzieren und somit keine ganzheitliche Orientierung bieten können. Sie fungieren eher als Ideologien, die komplexe Realitäten auf ein einziges Prinzip verkürzen, was sie wiederum für manche als Quasi-Weltanschauung interessant macht.
- Wirtschaftsliberalismus:
Er reduziert sich im Wesentlichen auf die Werte der Unabhängigkeit und materieller Effizienz, während universelle Moral und ein tieferer Haltungsfokus so gut wie keine Rolle spielen. - Ökonomismus:
Er stellt den extremsten Fall ideologischer Reduktion dar. Nach meiner Analyse wird er bei sechs von acht Indikatoren mit 0 bewertet. Er betrachtet die Realität ausschließlich durch die Brille materieller Werte. - Technizismus:
Er kennt fast ausschließlich nur den Technikfokus als universelle Lösung und vernachlässigt dabei den Fokus der inneren Haltung sowie moralische und gemeinschaftliche Dimensionen. - Konsumismus:
Er ist auf wie der Ökonomismus sehr auf materielle Werte ausgerichtet und zudem auf die kurzfristige Befriedigung von Bedürfnissen reduziert. Ohne universelle Moral und Haltungsfokus bietet er keine nachhaltige ethische Orientierung. - Hedonismus:
Er zentriert sich radikal auf den Haltungsfokus des individuellen Empfindens, lässt dabei aber eine breitere soziale und universell-moralische Verantwortung weitgehend außer Acht.
Diese
Klassifizierung zeigt die strukturellen Unterschiede zwischen den Denkwelten
auf.
Mit Blick auf unsere Sorgen um eine Zukunft, nämlich um die Zerstörung der Umwelt und um den immer mehr zerbrechenden Frieden habe ich ein letztes, entscheidendes Kriterium für die Bewertung einer Weltanschauung eingeführt, das über ihre reine Struktur hinausgeht: ihre Zukunftsfähigkeit.
Dieses Kriterium – eh nur anwendbar auf die drei vollwertigen Weltanschauungen in Kategorie I – erfüllen diese drei nicht in gleichem Maße, sodass letztlich nur eine davon als Weltanschauung mit Zukunft identifiziert werden kann.

